Wie ein Bonner vor fast 100 Jahren den Grundstein für eine süße Erfolgsgeschichte legte
Wer kennt sie nicht, die kleinen süßen Fruchtgummis in Bärenform? Sie sind nicht nur eine beliebte Beute bei den Karnevalszügen der Region, sondern gehören zur Grundausstattung von Konferenzräumen und privaten Naschschränken. Längst haben Gummibärchen die Welt erobert und sind nicht mehr wegzudenken. Dabei begann alles vor gut 100 Jahren nur rund 80 Kilometer von Düsseldorf entfernt.
Wir alle haben unsere Lieblingsfarbe. Die einen essen gerne die Roten, andere wiederum die Gelben. Als jetzt jüngst eine blaue Sonderversion aufgelegt wurde, führte das zu einem Ansturm auf die Geschäfte. Gemeint sind natürlich Gummibärchen. Jeder von uns kennt sie und jeder von uns verzehrt pro Jahr rund sechs Kilogramm. Rein statistisch gesehen. Gummibären sind ein weltweites Phänomen, sogar Disney widmete den kleinen Fruchtgummibärchen eine eigene und erfolgreiche Zeichentrickserie.
Nach Amerika muss sich freilich niemand begeben, um zu ihrem Geburtsort zu gelangen. Es reicht eine gut einstündige Autofahrt in unsere Nachbarstadt Bonn. Denn dort hatte 1920 der Bonbonkocher Hans Riegel eine geniale und bahnbrechende Idee. Dazu später mehr.
Der 3. April 1893. Im dörflichen Friesdorf bei Bonn erblickt Hans Riegel das Licht der Welt. Niemand in der Familie ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass der kleine Hans nur 27 Jahre später den Grundstein zu einem Familienimperium legen wird. Zunächst läuft bei Hans alles so, wie sich das Eltern wünschen. Er absolviert die Schule, lernt Bonbonmacher – in der damaligen Zeit kein außergewöhnlicher, sondern ein sehr begehrter Beruf – und findet Anstellungen bei damals bekannten Süßwarenherstellern in der Republik. 1920 macht er sich mit seiner eigenen Firma im Bonner Stadtteil Kessenich selbstständig. Sein Startkapital besteht aus einem Sack Zucker, einer Marmorplatte, einem Hocker und einem Kupferkessel. Am 13. Dezember lässt er seine Firma ins Bonner Handelsregister eintragen. Sie soll HARIBO heißen, ein Akronym aus Hans Riegel Bonn. Natürlich ahnt er nicht, dass dieser Name bald weltbekannt sein wird.
Es muss nicht immer der Griff zur "bunten Tüte" sein: Ein Besuch beim heimischen Hofladen bringt ebenfalls Köstlichkeiten, die süß sein können.
Riegel ergeht es wie jedem Firmengründer – die ersten Jahre sind die schwierigsten. Die Geschäfte laufen passabel, aber große Sprünge kann er sich nicht leisten. Lediglich eine Angestellte unterstützt ihn bei der Herstellung von Bonbons – seine Frau Gertrud. Dann, zwei Jahre nach der Gründung, passiert es. Riegel ist auf der Suche nach einem neuen Bonbon. Er experimentiert mit Fruchtgummi in Tierform. Das überzeugendste Ergebnis: ein Tanzbär. Die Geburt einer Legende. HARIBO nennt das Fruchtgummitier später Goldbär und lässt die Marke eintragen und weltweit schützen. Wie ernst die Bonner es mit dem Schutz meinen, wird der Schokokonzern Lindt zu spüren bekommen. Nach vielen Jahren vor Gericht müssen die Schweizer ihre Goldbären aus Schokolade umbenennen. Doch zurück zu Riegel in Bonn. Der wird vom Erfolg seiner Goldbären förmlich überrannt. Bislang wurde die Tagesproduktion von Ehefrau Gertrud mit dem Fahrrad ausgeliefert, ab 1923 kommt ein Pkw zum Einsatz, damit alle Bestellungen auch ihr Ziel erreichen.
So oder so ähnlich muss Riegel wohl gedacht haben, dass er nach dem Erfolg des Goldbären nicht untätig sitzen bleibt. Drei Jahre später legt er nach, mit Lakritzprodukten. Sein erster Verkaufsschlager: die Lakritzstange. Ein Erfolg, aber für den tüftelnden Bonbonmacher nicht ausgefallen genug. Er verfeinert die bestehenden Herstellungsverfahren, mit denen sich die Lakritzrohmasse besser bearbeiten lässt. Plötzlich sind nicht nur dicke Lakritzstangen möglich, sondern auch lange Schnüre. Die verheddern sich aber immer in der Auslage, daher kommt er auf die Idee, sie zu rollen. Er nennt sie Lakritzschnecke, ein weiterer Bestseller. Bereits zehn Jahre nach der Gründung arbeiten 160 Mitarbeiter am Bonner Firmensitz, Vertreter haben ein flächendeckendes Vertriebsnetz über ganz Deutschland gelegt. Jeder in Deutschland kennt den Süßwarenhersteller, auch wegen seines für damalige Verhältnisse progressiven Slogans „HARIBO macht Kinder froh“. Der wird übrigens erst Mitte der 60er-Jahre um den Zusatz „und Erwachsene ebenso“ ergänzt, damit auch andere Zielgruppen erschlossen werden können.
Während des Zweiten Weltkriegs sind die Geschäfte rückläufig – Panzer statt Süßigkeiten lautet die Devise, auch die Rohstoffknappheit macht den Bonnern zu schaffen. Aber nach dem Krieg geht es direkt weiter. Auch, weil die Bonner Produktionsstätten so gut wie keinen Schaden erlitten haben. Der Gründer erlebt das leider nicht mehr – er stirbt 1945 mit nur 52 Jahren. Zunächst übernimmt seine Frau die Geschäftsleitung, 1946 stoßen die beiden Söhne Hans und Paul dazu, als sie aus der Kriegsgefangenschaft wieder nach Bonn zurückkehren. 1950 beschäftigt HARIBO bereits 1.000 Mitarbeiter. Und die Expansion geht weiter. Wie kaum ein anderes Unternehmen in der Branche drücken die Bonner der Welt nach und nach den HARIBO-Stempel auf. Eine Erfolgsgeschichte, die auch heute noch anhält.
Mit ein Grund für HARIBOs Erfolg sind nicht nur die Produkte, sondern auch die Art und Weise, wie die Firma geführt wird. Trotz fast 7.000 Mitarbeitern und 16 Produktionsstandorten in Europa ist HARIBO nach wie vor ein Familienunternehmen. Und wird auch so geführt. Tradition und Firmengeschichte werden höher bewertet als der schnelle Euro an der Börse. Zur gelebten Tradition gehört auch die jährliche große Tauschaktion Ende Oktober. Beide Riegelbrüder sind passionierte Jäger und tauschen dann Kastanien und Eicheln für die Wildfütterung gegen Produkte aus dem Haus. Das Tauschverhältnis: Pro 10 Kilogramm Kastanien gibt es ein Kilogramm Süßwaren. Bei Eicheln reichen sogar 5 Kilogramm. Der Zuspruch aus der Bevölkerung ist riesig, ganze Familien reihen sich mit ihrem Bollerwagen voller Kastanien und Eicheln in die lange Schlange. Im letzten Jahr war der Ansturm besonders groß. Erstmals in der fast achtzigjährigen Geschichte der Aktion wurde eine Obergrenze gesetzt. Mehr als 50 Kilogramm Süßwaren pro Person gab es nicht.
2014 fasste man den Entschluss, der Heimat Bonn schweren Herzens den Rücken zu kehren und Produktion und Verwaltung ins benachbarte Grafschaft zu verlegen. Keine Entscheidung gegen die Historie, sondern eine für den Fortbestand der Firma. Am Bonner Standort war jeder Quadratmeter ausgenutzt, eine Expansion nicht mehr möglich. Ein Trost: Immerhin entstehen 300 zusätzliche Arbeitsplätze, und die Produktion kann die nächsten Jahrzehnte weiter wachsen. Das wird sie auch müssen, denn nach wie vor verlassen pro Tag unglaubliche 100 Millionen Goldbären die Produktion. Eine Menge, die in weiten Teilen auf den Methoden fußt, die Hans Riegel 1920 erfunden hat.
Joachim Gerloff • 22. August 2024